Politische Macht & Philosophie

Vol. 4

Und ich dachte gerade, dies sei die beste Entscheidung meines Lebens, als mein Kollege mein Büro betrat – damals, vor 20 Jahren, im September 2001.

„Dein Freund lebt doch in New York, oder?“, sprach der sonst so eloquente Spanier mit diesem Tonfall. Jenem, den man nutzt, wenn man … Nun ja! Sein Teint glich einem ausgepackten Babybel und er einem Jackenständer in schwarz. Etwas von ihm schwappte in den Raum. Oder besser, über mich hinweg.  

„Ja!“, antwortete ich. Und dachte… Oh Gott! Plötzlich erfasst von dieser seltsam eisgrau winterlichen Starre, die so gar nicht zu meinem Indian-Summer-Feeling passen wollte. Immerhin hatte ich gerade diese eine, lebensverändernde Entscheidung getroffen.

„Dann solltest du dir DAS anschauen!“ Ungefragt annektierten seine Hände meine Tastatur und tippten wild, ja beinah hysterisch, darauf herum; schienen jedoch genau zu wissen, was sie taten.

Eine Site öffnete sich. Was sich dort, vor mir am Bildschirm abspielte, nahm ich dann jedoch eher bubble artig wahr – irgendwie gefangen zwischen nicht-glauben und nicht-begreifen können oder wollen. Und noch einem Gefühl, das ich – selbst heute – noch immer nicht beschreiben kann.  

Ich hörte aufgeregte Schreie, ohrenbetäubende Sirenen. Sah eine rauchende Fontäne, einen brennenden Turm. Wollte mich bewegen, mein Mobile greifen. Klebte jedoch fest. Am Bildschirm. Im Augenblick. Jenem, der die Welt veränderte. Und damit ungefragt auch mein Leben.

Als der erste Turm einstürzte, stürzte auch etwas in mir zusammen wie ein Traumgebilde: Ein Bild. Ein Gefühl. Lösten sich auf.

Puff!

Der zweite Turm folgte.  

Von Herfried Münkler als die Neuen Kriege bezeichnet, erhält das Kampfgeschehen im beginnenden 21. Jahrhundert mit jenem Tag im September 2001 eine andere Erscheinungsform; eine Art Upgrade an entmenschlichter Radikalität. Es sind nun nicht mehr Staaten, die sich bekämpfen. Vielmehr richten Terroristen und Warlords ihre Gewaltakte direkt an zivilen Menschen aus. Belebte Plätze werden zum Ziel, Medien zum Schauplatz und wir zu Zeugen einer neuen Ära: Das Verbreiten von Angst als Mittel zum Zweck in einer global vernetzten Welt. Wir sind keine in sich geschlossene Gesellschaft mehr. Was weltweit passiert, verfolgen wir live. Und es ist an uns, tagtäglich mit der Bedrohung, der Angst, den Bildern, den Geschehnissen umzugehen, sie zu hinterfragen – ein jeder auf seine Art.

Im Frühjahr 2019 gingen mein Freund und ich zusammen in Manhattan spazieren. Wir tauchten ein in die pulsierende Menge, ließen uns treiben als wären wir zwei Adler in luftigen Strömen. Ein feiner Wind wehte wispernd und flüsternd durch die Straße, warnte mich jedoch nicht. Als wir an einem Platz ankamen, stockte mir plötzlich der Atem. Eigentlich hätte ich es wissen müssen! Eigentlich. Und dennoch… stand ich ahnungslos dort. Meine Glieder, schwer wie Blei, drückten mich zu Boden. Mir war, als würde ich in die Tiefe gerissen. Ich fühlte Schreie, dumpfe Aufschläge – nicht nur buchstäblich, sondern auch wortwörtlich, als sei ich selbst ein Teil davon. Von etwas Unerklärlichem erfasst, schossen mir Tränen in die Augen.

„Spürst du es auch?“, fragte mich mein Freund.

„Was ist das?“ Meine Stimme klang eigentümlich fremd in meinen Ohren.

„DAS ist Ground Zero!“

Ich spürte es, hatte den Bodennullpunkt jedoch nur nicht sofort erkannt.

In Platons Staat heißt es: „Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden oder die Könige und Machthaber sich wahrhaft und ausreichend mit der Philosophie befassen und dies nicht in eins zusammenfällt, politische Macht und Philosophie, gibt es kein Ende der Übel für unsere Städte, ja nicht für die Menschheit insgesamt.

Und so frage ich mich: In was für einer Welt wollen wir leben?! Schließlich sind wir doch Hanna Ahrendt zufolge, ein Mensch unter Menschen und müssen nicht hinnehmen, sondern können die Umstände, in denen wir leben, durchaus gestalten. Heiligt der Zweck knapp 20 Jahre nach den Ereignissen von 2001 noch immer das Mittel? Oder ist es nicht vielmehr die Liebe zur Weisheit, die in Balance bringt, was wir gerade jetzt aktuell erfahren?

Irgendwo also, zwischen Machtgewinn, Machterhalt, dem Weg zum Supermarkt und einer verschwörerischen Theorie muss sie doch liegen, die Wahrheit! Oder etwa nicht?!


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