Professor goes YouTube

Vol. 2

Es ist ein kleines, rechteckiges, durchaus teilbares Ding, das da vor mir steht. Lauter kleine Quadrate öffnen sich. Namen erscheinen. Knackende, knarzende Töne. Schließlich einzelne Gesichter. Oder doch bloß schwarze Kästchen – immerhin benannt. Wer oder was sich dahinter verbirgt, bleibt ein Fragezeichen; ähnlich wie bei Watsons black box. Social escaping lässt grüßen, denke ich, warte und nicke lächelnd. Es dauert seine Zeit, bis sich alle 250 Teilnehmenden meiner Vorlesung eingeloggt haben. Quadratisch. Praktisch. Gut sortiert auf dem Bildschirm vor mir, die Mikrophone ausgeschaltet. Ich beginne zu reden. Meine Stimme füllt die knapp 15 Quadratmeter aus. Kommt ganz sang- und klanglos und ganz ohne Hall daher. Neben mir die Wand voller Bücher, hinter mir ein Sessel mit stilvoller Lampe; so lässt, ganz Dr. Faust, das Gelehrtenkämmerlein grüßen. Draußen rollen die Motoren. Es herrscht halt Durchgangsverkehr in dem eher schmucklosen Örtchen, wo ich wohne. Da sitze ich also, ganz real, ganz virtuell – in Blazer und Jogginghose. Man sieht ja bloß die obere Körperhälfte. Irgendwie ein Widerspruch. Einer, der kreativ macht – so zumindest heißt es bei Goethe und lässt mich hoffen.

Ich erzähle, verteile Aufgaben und schicke meine Erstsemester schließlich in Break out Sessions; jene virtuellen Stellvertreter für real existierende Seminarräume. Die weiteren Vorlesungen gibt’s dann als Video on demand: professor goes youtube. Willkommen im Studium 2.0, denke ich. Schon geht mein Geist auf Reisen. Den Freiheitsdrang des Geistes nämlich hält niemand auf; meint auch der deutsche Philosoph, Manfred Hinrich. Draußen läutet eine Glocke; doch ich, längst weit entfernt, bin bereits auf dem Weg zum Hörsaal 1. Und atme tief ein, was mich am Leben hält. Die Unterlagen unterm Arm geklemmt, klappern meine Pumps über den Campus-Asphalt. Nichts umwölkt den Horizont. Die Sonne scheint, verbirgt nicht ihr Licht. Und die Luft ist angefüllt von diesem ganz speziellen Uni-Geist: Wissensdurst, Traumziele und Zukunftsideale. Der melodische Dreiklang schlägt mir entgegen, hängt überall. Auch zwischen den angestaubten Wänden längst vergangener Zeit. Lachen. Nicken. Grüßen. Ich betrete den Saal mit den hohen Decken. Bänke und Reihen sind angefüllt. Die Atmosphäre gleicht jener, kurz bevor ein Opernstück, ein Konzert beginnt. Stimmengewirr, als würden Instrumente eingestimmt. Ich schreite durch die Gänge – durchaus im Bewusstsein darum, selbst einmal dort gesessen zu haben. Groß, eindrucksvoll und ordentlich übermächtig streckt er sich vor mir aus, der leicht ergraute Philosophenturm mitsamt seinem europäischen Dichter und Denker-Geist. Nun, sie sind es, die mich nach wie vor durch die Gänge zum Podest begleiten – ganz so, als wären sie lebendig. Oder ich ein Relikt der Vergangenheit?! Wer weiß. Tief atme ich abermals ein. Lege meine Unterlagen aufs Pult und schließe kurz die Augen. Schon schwindet der Moment zusammen mit meinem recht idealisierten Gegenhorizont. Und die Glocke schlägt erneut… as time goes by.

Zurück im Gelehrtenkämmerlein vor dem Laptop-Bildschirm. Time may change me but I can’t trace time. Ist es wirklich so, wie David Bowie meint, dass ich nicht mitverfolgen kann, wie mich die Zeit verändert?! Ich schaue die Quadrate an: Ist das klausurrelevant? Die Fragen sind nach wie vor dieselben. Und dennoch… zeigt sich der Geist der Veränderung im Spiegel der Zeit. Und ich begreife: Das einzig beständige ist der Wandel, so jedenfalls heißt es bei Heraklit. Recht hat er damit. Die aktuelle Situation hat uns hineingeworfen – wohl eher katapultiert – in eine neue Kultur der Digitalität, die wir immerhin mitgestalten können. Im Hier. Im Jetzt. Und für die Zukunft. Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser oder schlechter wird. Bloß anders. Und Anders heißt nicht per se gut oder schlecht. Auch wenn ich etwas vom Anderen vermissen mag. Es ist halt einfach der alte Geist im neuen Kleid. Nicht wahr?!

Alter Geist im neuen Kleid?!

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