Anschein von Normalität

O du runde Welt, mein Herz ist so klein wie ein Stückchen Kohle. Ist es weiträumiger als du? Ich weiß, wie begrenzt du bist!

Das Auto zitterte, und ich dachte, wie eng begrenzt die Welt doch ist. Mir war ganz beklommen zumute, ich bekam kaum Luft. Heute wurden Männer im Fernsehen gezeigt, die aus ihren Wohnungen in Baida geführt wurden, einem Dorf, das immer noch von der Armee und der Sicherheit umstellt ist. Auf dem Platz mussten die Männer sich auf den Boden legen, die Hände wurden mit dünnen Plastikschnüren zusammengebunden, die scharf wie Messer in die Haut schnitten. Das Bild ließ mich nicht mehr los. Die Gesichter waren gegen den Asphalt gedrückt, die Rücken zum Himmel gekehrt

(Samar Yazbek (2013): Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 40).

Vol. 6

Mir ist, als würden alle Farben verschwinden. Zumindest für den Augenblick. Ein Zeitraffer liegt über der Szenerie. Wenigstens meine ich das. Ich lausche. Es ist so still im Raum, als hätten wir aufgehört zu atmen. Eine fallende Stecknadel wäre gewiss beim Aufschlag zu hören zu gewesen. Einzig wahrzunehmen, diese Stimme: Klar, sachlich, ruhig.

Warum nur sitze ich hier? Was hat mich bloß dorthin geführt? In jenen Raum, der ganz plötzlich ganz klein zu werden scheint – kleiner, als meine Hand an Größe packen kann. Wohl, weil ein jeder von uns gekommen war, um zu verstehen. Verstehen, wie es nur zu diesem Blutbad hatte kommen können. Neben mir sitzen meine Freunde. Sie kommen aus Syrien, hören zu. Nicht minder gebannt. Genau wie ich und der Rest, der Anwesenden. Die Stille im Raum ist fühlbar angefüllt von Bildern. Und ein Krieg greifbar. Einer mehr, den ich nicht fassen kann. Darüber liest die charismatische Autorin, Samar Yazbek, und erzählt uns von ihrer Flucht aus Syrien, die sie eindrücklich in ihrem Buch beschreibt. Es entstehen Fragen in mir: Was wohl haben meine Freunde auf ihrem langen Weg von Syrien nach Deutschland erlebt? Und was dort vor Ort?

Warum also sitze ich hier – ebenso einfach, wie schlicht zu beantworten: Um eine Antwort auf die Frage zu finden, die mich seit vielen Jahren bewegt: Wie wollen wir leben in einer Welt, die Samar Yazbek aus ganz bestimmten Grund als eng begrenzt empfindet? Einer Welt, in der wir Menschen doch eigentlich alle zusammenleben und uns als Teil verstehen. Und doch passieren Dinge, die das Herz treffen und es zu einem Stückchen Kohle werden lassen. Was ist nur passiert? Unter anderem davon erzählt die Autorin und antwortet auf die Fragen der deutschen Übersetzerin zur Lage in Syrien. Sie spricht darüber, dass das Regime Baschar-al-Assads schon immer als eines der repressivsten in der arabischen Welt gegolten hat (siehe Einband des oben genannten Buches). Für diesen und andere Gedanken musste sie jedoch ihr Heimatland verlassen und ins Exil flüchten. Dabei hatte der arabische Frühling doch so hoffnungsvoll begonnen.

Später am Abend, nach der Lesung, sitzen wir im Sommergarten des Literaturhauses. Eine sanfte Brise weht samtweich durch die Blätter, fächert sie auf, streift streichelnd über sie hinweg und verfängt sich ein bisschen in meinen Haaren. Ausgelassene Stimmen, Soul und Lachen mischen sich im Lau eines sommerlichen Abends, ganz so als wäre Monet am Werk gewesen. Der Kontrast zum Vorher hätte nicht friedvoller, nicht farbgewaltiger sein können – ganz besonders für meine syrischen Freunde. Und für einen kurzen Augenblick entsteht in uns und um uns herum der Anschein von „Normalität“ – was auch immer das meint. Die Frage, was hinter meinen Freunden liegt, wird in dieser Sommernacht nicht mehr angeschnitten. Die Antwort darauf ist ohnehin ganz einfach und nachvollziehbar: Wer eine Flucht aus seiner Heimat auf sich nimmt, die ihn das Leben kosten kann, der hat sehr gute Gründe dafür. Die Augen sprechen ohnehin aus, was nicht gesagt werden kann. Und Samar Yazbek hatte eben erst darüber gelesen. In jenem kurzen Augenblick aber, waren wir schlicht und einfach vier junge Menschen, die sich als Teil einer Welt verstanden, die aus den Fugen geraten war. Doch für den Moment war die enge Welt weit, das Leben normal und wir, einfach so, als Teil davon, miteinander verbunden.


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