Vol. 18
Romeo und Julia… once again! (Leseprobe)
Neuer Fremder
“Geist: In Lebensfluten, in Tatensturm // Wall ich auf und ab, webe hin und her! // Geburt und Grab, // Ein ewiges Meer, ein wechselnd Weben, // Ein glühend Leben. So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit, //und wirkte der Gottheit lebendiges Kleid. Faust: Der du die weite Welt umschweifst, // Geschäftiger Geist, wie nah fühl’ ich mich dir! //Geist: Du gleichst dem Geist, den du begreifst, // Nicht mir!” (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I)
Stoßweise atmend, zuckte ihr Körper. Ihre blicklosen Augen, schauten in die Leere. Das Gesicht so bleich, wie ein Leichentuch. Weißer Schaum trat aus ihrem Mund.
»So tu doch was, Rav« Die hysterische Mädchenstimme verlor sich im Nebel.
Mit einem letzten kraftvollen Schlag drückte sich ihr Herz gegen die Brust. Wum. Schon wurde sie von der Dunkelheit verschluckt. Jetzt kam der Tod. Also doch.
***
Freitag. Fünf Tage vorher.
Ein gleichmäßiges Rauschen drang zu ihrem Ohr. Es regnete – und das sehr stark. Und schon seit Tagen. Grau‘ in graue Wolkenfetzen wollten den Blick ins Mai-Blau einfach nicht freigeben. Dicke Tropfen seilten sich wie gelangweilte Regenwürmer von den hohen Fensterscheiben.
Warum regnet es ausgerechnet jetzt so viel, überlegte Li. Dabei wollte sie doch. Aber das ging jetzt nicht. Stattdessen träumte sie sich in ein fernes Land.
In meiner Fantasie, da existiert ein perfekter Ort. Aus Farben, so vielfältig wie der schönste Regenbogen. Ein schillernder Ort aus Diamanten. Inmitten eines Herzens aus Grün. Dort stehe ich. Lasse meine Gedanken auf die Erde regnen. Und blinzle. Irgendwas fort. Schon blickt es sich klarer. Glück zulassen ist eine Kunst, die anmutig achtsamer Lebenskraft bedarf, denke ich. Ergibt das Sinn? Die Blätter des Tanns um mich herum, ein Prisma. Lenken um. Wellenförmig. Ein optischer Effekt. Sieht aus, wie frittierte Sonnenstrahlen. Und ich, ein ruhender Tiger im Gehölz. Bereit, mit dem Wind zu springen. Wenn sich der nächste Schritt zeigt. Aktion und Reaktion – ein Wechselspiel. Das dem Licht gleicht. Weil es über Grenzen reicht. Ist man erst einmal mutig genug. Zu riskieren. Da das Kämpfen heißt. Für die eigenen Ziele. Doch manchmal, da lässt das Leben warten. Dabei wollte ich. Und doch geht’s einfach nicht weiter. Weil Ruhe drin ist. Stille im Herzen heißt aber nicht, dass das Leben eine Pause macht.
Ein Klopfen schreckte die 17-jährige aus ihren Tagträumen. Sie erwachte. Schlagartig kehrte ihr Fokus zurück in den Unterricht. Und ihr Blick wanderte blinzelnd zur Tür. Herein trat die hagere Gestalt des Konrektors. Wie immer trug er seinen dunklen Anzug mit der veralteten Würde eines Lateingelehrten zur Schau. In dem hochgewölbten Klassenzimmer des roten Backsteinbaus an der langgezogenen Allee, wirkte er wie die verblasste Kopie einer Figur aus einem mittelalterlichen Bühnenstück. Nicht ohne Grund hatten ihn die Schüler heimlich Pater Noster getauft.
»Guten Morgen«, sprach Dr. Wagener eintretend. Die freundlich kühle Reserviertheit seiner Stimme füllte den Raum nicht wirklich aus; machte ihn bloß etwas grauer. Wie ein zurückgelassener Regenschirm stand er vor dem Whiteboard. Und warf seinen prüfend musternden Adlerblick aus blassblauen Augen auf die Oberstufenschüler. Einige versteckten sich hinter ihren Tablets; nutzten diese ganz offensichtlich so, wie Captain America sein Schutzschild. Bei seinem Anblick musste Li unwillkürlich an den unzufriedenen Dr. Faust denken und wie Goethe ihn beschrieben hatte:
„Da steh‘ ich nun, ich armer Tor! // Und bin so klug, als wie zuvor; // Heiße Magister, heiße Doktor gar, //Und ziehe schon an die zehen Jahr, //Herauf, herab und quer und krumm, //Meine Schüler an der Nase herum“ //
Herr Wanko, der sympathische Mathereferendar, hielt inne und überließ dem stellvertretenden Schulleiter die Bühne. Der Kontrast zwischen beiden Generationen hätte nicht augenscheinlicher sein können.
»Ich möchte Ihnen Ihren neuen Mitschüler vorstellen«, fabulierte der Konrektor nasal. Und wirkte umso mehr wie ein stocksteifer Gelehrter. Einer, der sich für den Erhalt der guten alten Sitten berufen fühlte.
Das Rauschen des Regens wurde vom Gemurmel der Schüler unterbrochen. Lis Augen wanderten neugierig geworden abermals zur Tür. Tritt jetzt Mephistopheles auf die Bühne, dachte sie und musste kichern.
»Raven Montag wird ab sofort zusammen mit Ihnen die 12. Klasse besuchen und am Unterricht teilnehmen«, sprach Dr. Wagener und winkte bestimmt. Die Geste wirkte nicht wirklich einladend. Dennoch trat jemand aus dem Schatten des Türrahmes hervor.
Raven? Rabe! Was ist das denn für ein spuki Name? Li warf einen Blick. Und schnappte nach Luft. Ihre Augen weiteten sich. Des Pudels Kern trat in den Raum.
Eine Novelle angelehnt an William Shakespeares Romeo und Julia sowie an Johann Wolfgang von Goethes Faust I. Kernthemen: Fremdenhass, Liebe, Streben nach Autonomie und und Entfaltung der eigenen Potentiale. Geeignet für Leser:innen ab 14 Jahre.
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